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E, ein junger Mann im Alter von 37 Jahren

Der junge Mann E hat eine schwere genetische Krankheit. Seine Muskeln sind sehr stark atrophiert, wodurch seine Arme und Beine extrem dünn sind. Deformationen des Oberkörpers und der Extremitäten führten dazu, dass er an den Rollstuhl gebunden ist. Um seinen Alltag zu meistern, braucht er von seinem Pflegeteam 24 Stunden am Tag Hilfe. Er benötigt ein Gerät zur Unterstützung seiner Atmung und muss sehr vorsichtig beim Essen und Trinken sein.
Seit fast 2 Jahren ist er nun bei mir in Therapie, um seine Schluck- und Sprechfähigkeiten zu verbessern. Wir üben sehr intensiv, denn er spricht viel und gerne.
Zu seinen Vorlieben gehören Computerspiele und Filme. Obwohl er nicht lesen gelernt hat, ist es erstaunlich, wie gut er sich durch die Computerprogramme und Technik laviert.
Alles ist natürlich auf ihn angepasst. Er hat einen besonderen Stick, der es ihm ermöglicht, mit wenigen Bewegungen seiner schwachen Finger im Menüfeld zu agieren. Vor kurzem bekam er eine Augensteuerung, um seine Hand auch mal zu entlasten.
Im Verlauf unserer Gespräche bemerkten wir, dass er an Grenzen stößt, die noch geöffnet werden können. So entschied er sich dazu lesen zu lernen, obwohl er in seiner Schulzeit richtig große Probleme damit hatte.

Dezember 2019

Annelese in Kombination mit TAKTKIN

Wegen der stark eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten mussten wir auf die Lautgebärden verzichten. Die Buchstaben waren ihm aus seiner Schulzeit gut bekannt. Ihm fiel es schwer die Buchstaben zusammenzuführen. Er unterschied nicht zwischen Buchstabieren und Lautieren, wodurch er keine einzige Silbe lesen konnte. Der motorische Bewegungsablauf des Lautierens musste ihm durch TAKTKIN bewusst gemacht werden, um alte vermeintlich erleichternde Sprechgewohnheiten abzubauen.

TAKTKIN ist eine TAKTil-KINästhetische Stimulationsmethode bei Sprechstörungen. Sie wurde aus der amerikanischen Therapiemethode PROMPT von Beate Birner-Janusch auf das Deutsche übertragen. Dem Patienten werden die Abläufe der Sprechmotorik durch den Therapeuten fühlbar gemacht. Dies erfolgt durch die gezielte Stimulation von verschiedenen Punkten an Mund, Nase, Mundboden und Kehlkopf. Um einen Bewegungsablauf zu erzielen agiert der Therapeut im Mundbereich des Patienten wie auf einem Klavier.

Bilder aus dem Material der Fortbildung zu TAKTKIN bei Beate Birner-Janusch (März 2004)








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Bilder sind aus dem Hefter des jungen Mannes E.

Nachdem alle logopädischen Übungen durchgeführt wurden, nahmen wir uns ca. 15 Minuten Zeit, um mit Annelese zu arbeiten. Wir begannen mit der ersten Seite und vertieften manche Buchstabenkombinationen über individuell zusammengestellte Arbeitsblätter im Sinne von IntraActPlus. Da wir kein zeitliches Ziel hatten, wiederholten wir Seiten, bei denen Unsicherheiten auftraten. Erst wenn das Lesen ohne große Schwierigkeiten klappte, das heißt mindestens zu 80% sicher war, nahmen wir uns ein neues Blatt oder Buchstaben vor. Manchmal führte die neue Vielfalt wieder etwas zum Einbruch des bisher erlernten Stoffes, was uns abermals zum Wiederholen veranlasste. Dennoch kamen wir Schritt für Schritt bis zu den einfachen Wörtern und später zu Sätzen ohne Bildmaterial. Mir war stets wichtig, dass E das Tempo vorgab, um seinen Wunsch nicht durch eine zu hohe Frustration schwinden zu sehen. Das laute Lesen, auch als einzige schnelle Quelle des Prüfens der Lesefähigkeit, habe ich bei Notwendigkeit mithilfe von TAKTKIN gestärkt.








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Bilder sind aus dem Hefter des jungen Mannes E.

Aufgrund seiner Gaumensegelschwäche gab es große Probleme mit den Buchstaben m und n. Er sprach immer mit zu viel Kraft, sodass beide Laute kaum klangen und oft zu einem t wurden. Dies ist oft so, wenn die Muskelkraft schwach ist. Die Muskeln arbeiten dann häufig nur nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip, wodurch der eigentliche Einsatz verpufft und ein nicht gewünschtes Ergebnis entsteht.

Man kann es sich etwa so vorstellen. Man möchte eine leere, ganz leichte Obstschale aus Plastik, die vielleicht im Dämmerlicht wie eine schwere Kristallschale erscheint, hochheben und plötzlich passiert es. Unser Gehirn hat sich auf mehr Krafteinsatz eingestellt, wodurch wir fest zugreifen und schwer heben möchten. Die Plastikschale jedoch reißen wir dabei ungewollt fast über unseren Kopf.

Wir übten demnach viel an der Kraftdosierung und am Klang der beiden Laute. Ein individuelles Übungsblatt im Sinne von IntraActPlus und der Einsatz von TAKTKIN festigten beide Laute, wobei mit neuen Kombinationen immer mal wieder Schwierigkeiten auftreten.

Bilder sind aus dem Hefter des jungen Mannes E.

Mit den ersten Wörtern ohne Bildmaterial gab es wenig Probleme. Um das Lautieren zu verinnerlichen, musste er die Wörter laut buchstabieren und sich einprägen. Anschließend sollte er die Buchstaben aus dem Gedächtnis wiederholen und innerlich zu einem Wort zusammensetzten. Zu meinem Erstaunen funktionierte dieser Weg besser als das Ablesen vom Blatt. Hier hoffte ich stark auf übliche Generalisierungsprozesse durch Wiederholung, die sich inzwischen auch immer mehr einstellen.

Die weitere Vorgehensweise zeigt erneut, dass man flexibel mit dem Material umgehen muss. E konnte nun schon sehr gut die erarbeiteten Arbeitsblätter von Annelese lesen. Beim Übergang zu den Sätzen ohne Bildmaterial setzten seine erlernten Fähigkeiten völlig aus. Er blockierte sich selbst, weil er meinte, er könne das nicht lesen. Dies wisse er schon aus der Schule. Und wirklich, nichts ging mehr. Dabei waren es ganz einfache Sätze, nur mit den bisher erlernten Buchstaben, allerdings streng untereinander. Es überforderte ihn.  

Ich nahm die Schere und schnitt die Sätze auseinander. Beim nächsten Treffen bot ich ihm zwei weit auseinander geklebte Sätze auf einem A6 Bogen an. Anfangs deckte ich einen von beiden ab, später nicht mehr. Oft traten Schwierigkeiten bei ähnlichen Wörtern auf wie bspw. mag und lag oder labt und lebt. Mithilfe von TAKTKIN übten wir die Unterschiede, wobei auf diese Weise auch Silben wiederholt werden und später zu einer Generalisierung führen können.

Dies soll als Beispiel reichen. Ich denke, dass ich meine Vorgehensweise deutlich darstellte und wünsche allen Lernenden viel Erfolg sowie innovative Eltern, Lehrer oder Therapeuten.

Er ist sehr ehrgeizig und erzielt stetig kleine Fortschritte. Meistens üben wir 2 mal pro Woche 10 bis 15 Minuten.

Der zukünftige Verlauf mit dem jungen Mann E wird nicht weiter beschrieben.